Geschichte der Bibliothek
Die Bibliothek geht auf Graf Wolf Ernst zu Stolberg (1546–1606) zurück, der mit geschätzten 4.000 Bänden eine der großen Privatbibliotheken des 16. Jahrhunderts besessen hat.
Mit dem Regierungsantritt 1712 von Graf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode (1691–1771) und der damit einhergehenden Verlagerung des Regierungssitzes nach Wernigerode begann eine neue Blütezeit und die Bestände wurden von den folgenden Generationen bis ins 20. Jahrhundert hinein kontinuierlich und systematisch erweitert.
Aufgrund der Weltwirtschaftskrise sah sich das Haus Stolberg–Wernigerode 1928/29 gezwungen, 444 wertvolle Handschriften und Bücher an die Antiquare Rosenthal (München) und Hiersemann (Leipzig) zu verkaufen und die Bibliothek 1929 zu schließen. 1930 bis 1933 wurden anschließend vom „Verein der ruhegehaltsberechtigten Beamten“, der im Zuge der zeitweiligen Zwangsverwaltung des Stolberg-Wernigerodeschen Vermögens durch die Gläubiger die Verwaltung der Bibliothek übernommen hatte, 31.286 Bände durch den Antiquar Martin Breslauer (1871–1940) verkauft.
In einem aus dem Jahr 1934 stammenden Gutachten des Magdeburger Staatsarchivdirektors i. R. D. Dr. Walter Friedensburg und des Wolfenbüttler Bibliotheksdirektors Dr. Wilhelm Herse wird der vorhandene Buchbestand am 1. Juli 1928 mit 121.358 Bänden angegeben. Nach der Beendigung der Verkäufe betrug der Bestand im Januar 1934 noch 89.628 Bände. Berücksichtigt man die zur Bibliothek gehörenden aber getrennt aufgestellten Sammlungen Meinecke (2.132 Bände) und Radecke (2.001 Bände) betrug der Bestand 1934 tatsächlich etwa 94.000 Bände.
Ab 1934 konnte die Fürstliche Familie die Verwaltung der Bibliothek wieder an sich nehmen und die Bibliothek wurde ab 1935 für die Wissenschaft und 1937 für die generelle Öffentlichkeit wieder geöffnet. Die behördlich erzwungene Schließung der Bibliothek zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 bedeutete dann die endgültige Schließung der Bibliothek - bis sie 80 lange Jahre später im Jahre 2019 an ihrem heutigen Standort bei Hirzenhain wieder eröffnet werden konnte.
Nach der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschland fiel Wernigerode mit sämtlichen Stolberger Besitzungen im Harz unter die Sowjetische Besatzungszone (SBZ). Im Zuge der Bodenreform wurde das gesamte in der Provinz Sachsen gelegene Vermögen des Hauses Stolberg-Wernigerode - und somit auch die Bibliothek – entschädigungslos enteignet.
Am 19. April 1946 wurden von der Trophäenkommission der Roten Armee rund 50.000 Bände beschlagnahmt und als "Beutekunst"
in die Sowjetunion verschleppt. 1998 verabschiedete das russische Parlament (Duma) ein Gesetz welches die "Beutekunst" zu Eigentum des Russischen Staates erklärte.
Die endgültige Auflösung der Stolberger Bibliothek in Wernigerode wurde dann am 6. Juli 1946 beschlossen, als die Landesregierung verfügte: "Bücher und Bibliotheken werden zentral in die Landesbibliothek überführt. Nach erfolgter Sichtung werden die Bücher (an) öffentliche Bibliotheken oder wissenschaftliche Institute als Leihgabe weitergeleitet." Entsprechend wurde zwischen dem 25.05.1948 und dem 17./18.01.1949 nahezu der gesamte Rest der in Wernigerode noch vorhandenen Bestände - insgesamt 36.598 Bände, 1.055 Handschriften, 1.432 Karten (-werke), 9-12 Kisten mit Karten und 30 Mappenwerke - in neun Transporten an die im Jahr 1948 frisch gegründete Landesbibliothek in Halle an der Saale gebracht.
Neben der Bibliothek wurde 1949 auch das gesamte Stolberg-Wernigerodesche Archiv aus der Orangerie ins Historische Staatsarchiv in Oranienbaum verbracht. Der gemeinsame Standort der für die Wissenschaft so fruchtbaren Symbiose von Stolberger Bibliothek und Archiv war endgültig leer geräumt. Der langjährige Bibliotheks- und Archiv Verwalter Karl Reulecke erhängte sich daraufhin am 24. Januar 1950 in der geleerten Orangerie.
Im Zuge der Sichtung in der Universitäts- und Landesbibliothek in Halle wurden 1948 und 1949 Teile der Bestände im Auftrag des Landesamtes für Naturschutz und Kulturpflege in sogenannten LB-Listen katalogisiert. Die Akten der Bodenreform lassen darauf schließen, dass für die Provenienz Stolberg-Wernigerodesche Bibliothek die LB Nummern L 2, L 2a, L 2b, L 2c, L 2d, L2e und L 268 stehen. Sie wurden häufig - aber nicht immer - mit Bleistift in den Bänden vermerkt. Manche Bücher erhielten auch den handschriftlichen Vermerk "Dubl." für Dublette. Nach heutigem Kenntnisstand wurden Dubletten der in Halle bereits vorhandenen Bände, sowie solche, an denen die Landesbibliothek kein Interesse hatte, an andere Einrichtungen abgegeben. Ein Großteil der Bibliothek wurde jedoch in die Bestände der Landesbibliothek integriert und somit ging die Systematik fast vollständig verloren. Andere mit Stolberger Büchern begünstigte Einrichtungen verfuhren ähnlich. Meist wurden die Signaturen entfernt und durch neue Signaturen des jeweils gültigen Ordnungsprinzips ersetzt.
Doch nicht nur öffentliche Institutionen kamen in den Besitz der enteigneten Stolberger Bestände. Auch an das Zentralantiquariat in Leipzig wurden Bände weitergeleitet und diese landeten so auf dem Markt für antiquarische Bücher. Im Ergebnis führte die Enteignung im Rahmen der Bodenreform, die Verschleppung als Beutekunst durch die Trophäenkommission der Roten Armee, Diebstahl, unsachgemäße Behandlung, das Aufgehen von Beständen in unterschiedliche andere Bibliotheken der DDR sowie Hehlerei - auch durch den antiquarischen Buchhandel – zur vorerst gänzlichen physischen Auflösung der Bibliothek.
Die Verluste der Bibliothek sind in der Datenbank "Lost Art"
der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, die paritätisch von Bund und allen Ländern getragen wird dokumentiert. Die Erforschung von Kulturgutentziehungen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR steht noch am Anfang und wird von der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste
vorangetrieben. Zitat der Stiftung: „Unabhängig von der Rechtslage besteht auch fast 30 Jahre nach dem Ende der DDR Bedarf an systematischer Erforschung des Entzuges und Verlustes von Kulturgut zwischen 1945 und 1990. Die historischen Vorgänge und Strukturen sind ebenso ungenügend aufgearbeitet, wie die Methoden beteiligter Behörden, Institutionen und Akteure, wie die Geschichte der Opfer bzw. der Geschädigten staatlich betriebener Kunst- und Kulturgutentziehungen.“